Projekt der Herzensbildung
von Claudia Serrano Valdivia

Jedes Jahr nach der Sommerschließzeit erneuert sich die Kindergruppe. Die Vorschulkinder hatten wir vor der Sommerschließzeit verabschiedet und nun trafen nach und nach neue Kinder ein. Nicht nur für die ankommenden Kinder war die Situation neu. Auch für die Bestandsgruppe veränderte sich wie immer viel. So auch in diesem Jahr: gewohnte und lieb gewonnene Spielfreunde waren plötzlich nicht mehr da, wurden vermisst, fremde Kinder waren mit ihren Eltern da. Wir als Team bauten behutsam kleinste Verbindungen mit den neuen Kindern und deren Eltern auf. Das zog zumindest für die ersten Wochen unsere Aufmerksamkeit vermehrt auf die neuen Kinder. Die Kinder der Bestandsgruppe mussten sich wie jedes Jahr wieder neu orientieren: Wer ist von der gewohnten Gruppe noch da? Gibt es noch den heiß geliebten Lieblingsplatz im Morgenkreis und beim Frühstück oder sitzt dort plötzlich jemand Fremdes?
Vieles kann durch uns als Team gelöst werden und trotzdem hat jedes Kind eine herausfordernde Situation, die es meistern muss. Die Spannungen waren in diesem Jahr deutlich wahrnehmbar. Konflikte wurden nicht nur sprachlich gelöst. Manche Konflikte wurden körperlich „geklärt“, was im Rahmen einer 3-6 jährigen Altersgruppe auch immer wieder Alltag und Teil ihrer Entwicklung ist.
Um den Kindern mehr Handwerkszeug zu vermitteln, wie sie selbst mit ihren Emotionen umgehen können und Konflikte sprachlich bewältigen lernen, haben wir nach der Eingewöhnungszeit der neuen Kinder das Projekt Herzensbildung gestartet, welche Basis unserer Arbeit ist. Wir haben am ersten Tag des Projektes während des Morgenkreises gemeinsam mit den Kindern Sitz und Funktion des Herzens ausgemacht. Damit die Kinder ihr Herz erspüren konnten, sind sie einmal unseren sog. Geheimgang entlanggelaufen und kamen dann im Morgenkreis wieder zum Sitzen. Sie legten ihre Hand auf ihr eigenes Herz und nach Absprache untereinander auch auf das Herz eines Sitznachbars. Es war interessant für sie, das eigene Herz zu fühlen und es klopfen zu hören und diese Herzaktivitäten auch beim Gegenüber wahrzunehmen. Spannend für sie war auch, zu spüren, wie langsam wieder Ruhe einkehrte im eigenen Herzen.
Wir fragten die Kinder, wofür das Herz neben der Blutversorgung des Körpers noch steht: „Für Liebe“ und „Freude“ kam spontan hervor. Nachdem wir nun das Herz auch als den Sitz von Gefühlen ausgemacht hatten, differenzierten wir in den nächsten Tagen diese Gefühle weiter. Die Kinder beschrieben Gefühle wie Wut, Trauer, Freude und Glück. Eines der nun neuen Vorschulkinder sagte, dass Gott in seinem Herzen wohne. Es war spannend, den Kindern dabei zuzuhören, welche Assoziationen sie noch mit dem Herzen in Verbindung brachten: „Familie“, „Pferd“, „Hund“, „leckeres Essen“. In den Folgewochen lasen wir zum Frühstück je eine Geschichte aus dem Buch "Mit dem Herzen sprechen" von Juliane Hamman. Die Kinder lernten Gustav und seine Freunde kennen. Mit der Giraffe Gustav, die einige Kinder direkt ins Herz schlossen, lernten die Kinder nach und nach die Sprache des Herzens kennen. Die Giraffe Gustav hilft ihren Freunden eigene Gefühle und die Gefühle anderer wahrzunehmen, die eigenen Gefühle zu verstehen und diese zu versprachlichen. Sie steht den Freunden in Konflikten und herausfordernden Situationen zur Seite. Das Buch lädt die Kinder zum Nachdenken ein, da diese zum Ende einer Geschichte immer gefragt werden, was Gustav seinen Freunden wohl sagen möchte. Die Lösungen werden offengelassen. Wir hörten den Kindern beim lauten Überlegen zu, griffen ihre Impulse auf und halfen ihnen, ihre Gedanken und Emotionen in Worte zu fassen.
Die Gefühle in Sprache zu verwandeln, verleiht den Kindern einen Selbstausdruck und damit ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit gibt den Kindern wiederum Selbstsicherheit. Ein Kind, das sich seiner selbst bewusst und zunehmend selbstsicher ist, ist in Konflikten angstfreier -und handlungskompetenter. Es findet immer mehr in sich selbst Lösungen und löst auch inneren Stress zunehmend autark. Manche Kinder nutzen in Konflikten bereits zunehmend die sog. Giraffensprache, die Grundlage des Buches ist (gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg). Sie lernen täglich, dass alle Gefühle sein dürfen, dass es aber durchaus möglich ist, durch das Benennen von Gefühlen wie Wut und Enttäuschung mehr Handlungskompetenz zu entwickeln und damit zunehmend friedliche Lösungen für sich und im Umgang mit anderen zu finden. Das Projekt der Herzensbildung diente der Förderung der Emotionalen Kompetenz. Sie ist abgesehen von diesem Projekt immer Herzstück und Grundlage unserer pädagogischen Arbeit.
„Die Emotionale Kompetenz bedeutet, sich seiner Gefühle bewusst zu sein und Gefühle ausdrücken und zulassen zu können. Dies heißt auch, gegebenenfalls eigene Gefühle regulieren sowie mit negativen Gefühlen und Stresssituationen umgehen zu können. Die Fähigkeit, Gefühle bei anderen wahrzunehmen und zu verstehen ist ein weiteres Merkmal emotionaler Kompetenz. Emotional kompetente Kinder sind in der Lage, mit den vielschichtigen Gefühlen des Lebens umzugehen. Sie lernen, sich in andere hineinzuversetzen. Die Perspektive des anderen übernehmen zu können – Empathie – ist grundlegend für das soziale Miteinander. Die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinzuversetzen, kann bei Kleinstkindern noch nicht vorausgesetzt werden. Sie reagieren jedoch aufmerksam und teilnahmsvoll auf Gefühlsäußerungen ihrer Nächsten. Emotionen wie Liebe, Interesse, Überraschung, Wut, Angst, Traurigkeit und Freude sind von vornherein angelegt und werden zunehmend differenzierter. Der Erwerb von emotionaler Kompetenz ist die Basis für die sog. soziale Intelligenz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, das soziale Miteinander selbstbewusst und gleichzeitig einfühlsam zu gestalten.“ (aus dem Orientierungsplan für Bildung und Erziehung des Landes Niedersachsen, Bildungsbereich 1, Emotionale Entwicklung und soziales Lernen).
Neben den täglichen Geschichten von der Giraffe Gustav und ihren Freunden und dem situationsbezogenen Transfer der gewaltfreien Kommunikation in Stress- und Konfliktsituationen haben die Kinder mit Fingerfarben beherzt dutzende von Holzherzen bemalt und diese an ihre Eltern und Geschwister verschenkt („jemanden, den man gerne hat, eine Freude machen, „sein Herz schenken“). Ebenso schenkten einige der Kinder ihren Lieblingsplätzen auf unserem Bauwagengelände ihr Herz („an etwas sein Herz hängen“). Die Kinder kamen bei der Aktion „Lieblingsplatz suchen und diesen mit dem selbstbemalten Herz sichtbar machen“, miteinander ins Gespräch. Sie riefen sich erstaunt zu: „Was, du spielst hier auch gerne?“ „Ich auch!“ (Bewusstmachen der eigenen Freude und diese teilen lernen).



Zum Abschluss des Projektes schenkten sich die Kinder im Abschlusskreis einen Sonnenstrahl. Es war deutlich zu sehen, wieviel Freude es den Kindern hier bereitet hat, dem anderen eine Freude zu machen durch einen schönen Satz. Es entstand tatsächlich Wärme. Erst heute mit dem Beginn der Adventszeit nehmen wir die Sonne ab, die über dem Esstisch des Bauwagens hing und immer wieder mit ihren Strahlen die Herzen wärmte. War z.B. mal ein Kind traurig und vermisste die Mutter, kam es nicht selten vor, dass ein anderes Kind dieses wahrnahm und noch einmal den wärmenden Sonnstrahl vom Spätsommer wiederholte: „Weißt du noch, was da auf dem Sonnenstrahl steht?“ „Dass du witzig bist!“

Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass Wolken am Himmel vorbeiziehen und auch Regen sie nässt und dabei gleichzeitig lernen immer wieder und immer schneller zu ihrer innewohnenden Freude und Ruhe zurückkehren zu können, verlieren sie mit fortschreitender Entwicklung die Ohnmacht im Umgang mit eigenen negativen Gefühlen und gewinnen zunehmend an Autonomie.

Auch in der Natur fanden wir gemeinsam Herzformen.
